Über den Willen-zu-tun
Die Welt ist schlecht. Das haben wir ja schon immer gewusst. Meine Großmutter belehrte mich, Reiche, Arme und Ungerechtigkeit hätte es schon immer gegeben. Sie misstraute ‚denen da oben‘ und wählte sie natürlich dennoch – im ‚Bewusstsein‘ dabei nur ‚Schadensbegrenzung‘ zu betreiben, wie sie sagte. Aus konservativer Sicht war früher alles besser und deswegen muss es heute so bleiben wie es ist, denn es könnte ja schlechter werden.
Unbewusst, verdrängt, manchmal auch zynisch verstanden, ist vielen Menschen klar, dass da was grundlegend schief läuft in diesem Land, wo Reichtum und Individualität in einem nie gekannten Maße zusammenkommen – für jene Bevölkerungsgruppen, die daran teilhaben dürfen. Ob unverständliche Finanzkrise, alltägliche Ärgernisse am Arbeitsplatz und mit staatlichen Behörden oder die selektive, Angst und Legitimität erzeugende Nachrichtenberichtserstattung – viele Menschen empfinden ein großes Unbehagen im kalten Deutschland, was damit einhergeht, dass sie einer wandelbaren Kanzlerin vertrauen, die im rasenden Stillstand scheinbar die einzige Quelle der Kontinuität darstellt.
Politiker_innen brauchen uns aber nicht weiter zu interessieren, wenn wir den Versuch unternehmen, die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Widersprüchlichkeit zu verstehen und in-diesen-gegen-diese Widersprüche handlungsfähig zu werden. Das Erkennen der Verhältnisse, ihre Entschleierung ist dabei keine Frage der Intelligenz, sondern eine der Perspektive und Motivation. Insofern sich Menschen finden, die Perspektiven der Unterdrückten, Enteigneten, Ausgebeuteten, Entfremdeten entwickeln und gemeinsam Motivationen gewinnen, den kapitalistischen Zustand zu überwinden, können sie miteinander voranschreiten, sich ihr Leben zurückerobern, emanzipatorisch wirksam werden.
Der Kommunismus ist das Einfache, was schwer zu machen ist (Brecht). Als leicht gesagt und schier unmöglich zu tun erscheint allein der Gedanke, die Welt, die wir vorfinden, wirklich qualitativ weiterentwickeln zu wollen, ernsthaft an die Möglichkeit vieler anderer Welten zu glauben, die den erdrückend dominanten kapitalistischen Vergesellschaftungsmodus aufheben. Wie bitte also sollte ein derartiger Versuch vonstatten gehen, im Zeitalter der verschwundenen Großerzählungen, der an sich selbst gescheiterten oder gewaltsam aufgehaltenen historischen Versuche, die Gesellschaft grundlegend zu verändern, von freien Menschen gestaltbar zu machen?
Die Frage stellt sich zurecht und es ist notwendig, sie zu stellen. ‚Wir brauchen nur die Staatsmacht zu übernehmen‘, glaubten die Revolutionär_innen – und scheiterten auf dem Weg ihrer Übernahme oder gerade durch ihre Übernahme, weil die Staatsmacht sie übernahm. ‚Wir müssen nur unseren politischen Einfluss in der Gesellschaft immer weiter ausbauen‘, glaubten die Reformer_innen und wurden vom System aufgesogen und zahnlos integriert. Die Selbstorganisator_innen glaubten, sie könnten die neue Gesellschaft in der alten aufbauen und letztere damit einfach überflüssig machen. Gerade dadurch aber entwickelten sich kapitalistische Ökonomie und Herrschaft auch weiter, wurden immer perfider, sodass wir heute bis in den letzten Winkel unserer Subjektivität von der ökonomischen Regierung durchdrungen sind.
Wie kann also rebelliert werden von denen, welche immerhin noch am herrschenden Zustand auf vielfältige Weise leiden? Wie soll Aufbegehren möglich sein, in der Welt der profitablen asymmetrischen Kriege, des Konsums von Bildern, der Überwachungskameras, der faulen politischen Kompromisse, der permanent stattfindenden ökologischen Katastrophe, der Verschwörungstheorien, der Hetze gegen Minderheiten und Fremde, der ‚freiwilligen‘ Exhibition im Internet, des Hungerleidens von 900 Million Menschen, des gewerkschaftlichen Lohnverzichts, der zunehmenden Depressionserkrankungen, der unausweichlichen Sachzwanglogiken, der Vermarktung der Persönlichkeit und so weiter und so fort?
Auf diese Frage erhält man entweder schnelle, leichtfertige Antworten, denen stets zu misstrauen ist, weil sie zu verstehen vorgeben, was unverständlich ist. Damit zusammenhängend sind die einfachen Antworten immer an viele Müsste/Könnte/Sollte gekoppelt, die zum Ausdruck bringen sollen, dass man selbst ja auf jeden Fall auf der richtigen Seite stünde und aus diesem Grund auch nicht verantwortlich gemacht werden könne, geschweige denn selber gegen die kapitalistische Verwertungslogik und Herrschaftszusammenhänge handeln müsse. Oder man erhält auf die Frage nach dem Aufbegehren ein verständliches, aber trauriges Schweigen. Stille. – – – Sie ist sympathischer, weil sie ehrlicher ist. Weil sie sich nicht aufdrängt. Weil sie negativ ist und in ihrer Negativität Leid als dieses wirklich ernst nimmt und damit zur Geltung bringt. – Doch sie führt nicht zur Überwindung des unhaltbaren Zustandes dieser zerrütteten Welt, weil sie kein kollektives emanzipatorisches Handeln initiieren kann.
Die Verhältnisse sind vertrackt, verworren, verschleiert, ver-rückt. Darum sind sie zu verwerfen und zum Tanzen zu bringen, ohne, dass wir die Antworten darauf kennen, wie wir dies bewerkstelligen könnten. So zu tun, als könnten wir einfach machen, als müssten wir „nur“ die Staatsmacht bekämpfen, kleine Reformen auf den Weg bringen, uns selbst organisieren etc., ist nicht nur unverantwortlich, sondern schlichtweg falsch. Einfach gemacht ist falsch gemacht. Paradoxerweise aber gibt es Menschen, die anders anfangen zu tun, die sich auf den Weg begeben und mit einer gehörigen Portion Naivität, den brennenden Wunsch hegen, den herrschenden Zustand zu überwinden, etwas anderes zu schaffen, anders zu leben und andere Menschen anders leben zu lassen.
Der irrationale, weil letztendlich unergründbare, Wille-zu-tun hat in seiner ganzen Naivität das Potenzial etwas anderes zu sein, als das Einfach-und-falsch-machen der Macker, Langweiler und Spinner. Er kann sich im Stillen entwickeln, verharrt aber nicht in der Stille. Menschen, die den Willen-zu-tun entwickeln, werden sich der Widersprüchlichkeit ihres Handelns in einer vielfach gespaltenen Gesellschaft stückweise bewusst, versuchen diese auszuhalten und gerade dadurch aktiv zu werden für die freie und gleiche Assoziation der Individuen. Sie begeben sich in konkrete Auseinandersetzungen für die anderen möglichen Welten oder entfachen sie, wo Konflikte verdeckt, relativiert oder unterdrückt werden.
In den vom Willen-zu-tun entfachten oder bestärkten Auseinandersetzungen aber lernen wir in Prozessen zu denken, sehen ein Vorwärtskommen und Zurückgeworfen, gemessen an den von uns entwickelten utopischen Maßstäben einer menschlichen Welt. Jene, die den Willen-zu-tun entwickeln, weil sie von anderen willentlich Tätigen dazu inspiriert worden sind, schließen sich unweigerlich in freien Vereinbarungen zusammen, da sie die Sinnhaftigkeit kollektiven Handelns verstehen und sich gemeinsam den Herausforderungen stellen wollen, welche ihnen die ganz ungewohnten Erfahrungen ermöglichen. Damit der Wille-zu-tun aber nicht zum bloßen Machen-in-den-Verhältnissen verkommt, damit er nicht lächerlich wird oder an Langeweile zu Grunde geht, braucht er seine permanente Reflexion und Überprüfung in den wirklichen Auseinandersetzung und an seinen eigenen Ansprüchen.
Im Gegensatz zu den früheren Vorstellungen über die Möglichkeiten von Selbstbestimmung und Einflussnahme strebt der Wille-zu-tun danach, absolute Kategorien hinter sich zu lassen und verortet sich aber in einer widerständischen Tradition. Im Willen-zu-tun versuchen wir nachsichtig mit den Menschen zu sein und gleichzeitig das Ziel im Blick zu behalten. Diesem aber gehen wir nicht auf geraden Linien entgegen, die es im sich vieldimensional öffnenden Raum auch gar nicht gibt und geben kann. Es geht dem Willen-zu-tun nicht um falschen Frieden und repressive Harmonie, sondern um fruchtbare Auseinandersetzung in realen Konflikten, welche vorhanden sind und mit denen wir unweigerlich konfrontiert werden, wenn wir uns auf den Weg begeben.
Viele Menschen versuchen instinktiv ihren Willen-zu-tun zu entwickeln und zu leben. Diese Versuche gilt es anzuschauen, zu diskutieren und weiter zu entwickeln, wobei die Illusion aufzugeben ist, es handele sich um eine leichte Aufgabe. Im Übrigens geht es dem Willen-zu-tun nicht darum, recht zu haben oder auf der moralisch guten Seite zu stehen. Die Vorstellungen von Recht und Moral werden zumeist von der Herrschaft geprägt und sagen an sich nichts darüber aus, ob Menschen, die den Willen-zu-tun entwickeln in der richtigen Richtung unterwegs sind, sprich: in die schwer fassbare Richtung die Gesellschaft grundlegend zu ändern im Sinne der Gleichheit, Freiheit und Solidarität aller Menschen.
Dort, wo wir uns befinden, können wir den Willen-zu-tun entwickeln und uns dennoch mit den weltweiten Geschehnissen und Kämpfen verbunden fühlen; uns zu ihnen positionieren und unser eigenes Handeln in Zusammenhängen sehen lernen.
In diesem Sinne stellt der Wille-zu-tun keine neue Perspektive dar und gibt zunächst keine neuen Antworten auf die alten Fragen. Wenn der Wille-zu-tun in ein In-und-gegen-die-kapitalistischen-Verhältnisse-Handeln mündet, wird nicht alles, was wir wollen möglich. Was wir aber tun können ist den Raum der Möglichkeiten durch unsere rebellische Tätigkeit – also in der permanent reflektierten Praxis – auszuloten und auszuweiten. Wenn dies gelingt und wir es uns damit nicht einfach machen, wäre schon viel getan.