»Schöner Wohnen im falschen Leben«? – Teil II

Oder: Warum Kapitalismuskritik dem alten Arbeiterviertel gut stehen würde – Teil II
aus: Transmitter, Zeitschrift vom Freien Senderkombinat Hamburg

„Hässliches Wohnen im schönen Leben – oder was war hier noch mal das emanzipatorisch-kritische Moment (im Gängeviertel)? Zunächst wäre zu klären, inwieweit ein »Sich auf die gleiche Stufe mit der bürgerlich-konservativen Öffentlichkeit Stellen« noch zielführend für das Projekt Gängeviertel sein kann? Durchaus: Das medial gut inszenierte Vorgehen vor, während und nach der Besetzung bot einen Schutz vor einer unmittelbaren Räumung seitens der Stadtverwaltung. Die breite Öffentlichkeit hat in der Tat dazu beigetragen, die Besetzung zu legitimieren. Sogar die Springer-Presse mit ihrer rassistischen, sexistischen und homophoben Grundeinstellung und Berichterstattung sprach sich für die Besetzung und die Besetzer_innen aus.

Spätestens hier müssten wir uns jedoch fragen, was mit dem Projekt Gängeviertel in unseren und in anderen Köpfen ausgelöst werden soll. Wollen wir eine Anpassung an den Alltagsrealismus und mit all seinen Zumutungen erreichen oder eher eine Verstörung hinterlassen? Letzteres würde bedeuten, sich klarer von der bürgerlichen Öffentlichkeit abzugrenzen – nicht aus Feindschaft, sondern als Bestimmungspunkt. Um einen Experimentierraum für eine bessere Zukunft und somit die Möglichkeit einer Veränderung zu eröffnen, sollten wir eine Position entwickeln, die eine Überschreitung oder einen Widerspruch beinhaltet, statt nur »im Rahmen« zu bleiben.
Damit könnten den Menschen Möglichkeiten eröffnet werden, andere Positionen als ihre eingespielten einzunehmen und diese als »auch anders mögliche« zu begreifen. Durchaus, gelegentlich fällt es bei manchen Akteuren schwer, nachzuvollziehen, ob sie bestimmte Missstände überhaupt als solche erkennen oder bewusst die Augen verschließen. Gleichwohl nehme ich an, dass zumindest ein grundsätzliches Problembewusstsein existiert, an das sich anknüpfen lässt. Denn auch wenn reflexive Fähigkeiten aufgrund sozialer Bedingungen strukturell blockiert sind, gibt es eine prinzipielle Ansprechbarkeit für Kritik und für die Fähigkeit von Reflexivität.[18]

Ein elementares Ziel könnte somit die Schaffung eines Raumes sein, an dem die Akteure zur Reflexion und Kritik befähigt werden. Und obwohl im Gängeviertel bereits Situationen, Umstände oder Gebäude umgestaltet werden, müssen wir uns die entscheidende Frage stellen: Mit welchen Zielen wird hier vorgegangen? Ist das Ziel lediglich der Erhalt
einer billigen Wohnmöglichkeit[19] und die Restaurierung der alten Bauten? Oder werden die sozialen Verhältnisse selbst, ihre Produktion und Reproduktion in Frage gestellt? Letzteres würde bedeuten, den Fokus und die
Aufgabe der Kritik (vorerst) auf die Schaffung neuer Denkhorizonte zu richten. Allerdings würde eine bloß intellektuell-abstrakte Beschäftigung mit dem Kapitalismus nicht viel Winrkung zeigen. Das nötige praktische Verstehen kann sich nur im (Erfahrungs-)Prozess entfalten. Das Gängeviertel könnte sich jedoch hierbei als ein Ort etablieren, der das Handwerkzeug für eine kritische Praxis herund bereitstellt. Durch die Bildung von Gegenöffentlichkeiten könnte ein Raum geschaffen werden, in dem es möglich ist, der allgemeinen Unwissenheit und Verblendung entgegenzuwirken.

Gleichwohl kann es nicht den einen stabilen, neutralen oder sicheren Standpunkt geben, von dem aus Kritik geübt werden kann. Deswegen gilt es, Widerstand und Möglichkeiten von Kritik fortwährend neu auszuloten. Und auch wenn Autonomie, Kreativität oder Selbstbestimmung zur Optimierung von Produktivkräften im postmodernen Kapitalismus beitragen können, bedeutet das nicht, dass sich das immer und unter allen Bedingungen so verhält. Da der Kapitalismus
gleichzeitig von Brüchen durchzogen ist, könnte es lohnend sein, Kapitalismuskritik vor dem Hintergrund verschiedener Kritikmodelle zu diskutieren.[20]
Hierbei kann auch die historische Analyse von Gegenstrategien hilfreich sein. Daraus könnten mögliche Gegenpositionen und Strategien der Verweigerung sowie der Unterbrechung formuliert werden.[21] Auch im Sinne eines nachahmenswerten Projekts wäre es erstrebenswert, wenn das Gängeviertel genau der Experimentierraum bliebe, an dem klar ist: Es geht um radikale Selbstbestimmung und um ein Selbstverständnis, das über die bloße Umverteilung von Besitz oder die Reform von Gesetzen hinausgeht.
Es geht um die Forderung nach einem von Zwängen befreiten und radikal selbstverwalteten Leben, also nach einer befreiten Gesellschaft, die auf eine Überwindung von Kapital, Staat und Nation zielt.[22] Denn das »falsche Leben ist hässlich, und scho ner Wohnen im falschen Leben kann nur der solidarisch- kollektive Versuch sein, die Stadt als Kommune in freier Assoziation und gemeinsam aufzubauen: als Weltstadt eines Vereins freier Menschen«.[23] Radikale und praktisch-emanzipatorische Stadtkritik im Gängeviertel würde folglich bedeuten, dass die Zukunft nicht die Verlängerung der Gegenwart ist.
Der Zustand ist insofern offen, als dass wir die zukünftige Stadt weder genau benennen noch ein konkretes Bild von ihr zeichnen können, sie entsteht erst durch die verändernde Praxis. Solch eine Position einzunehmen verlangt von den Aktiven die Bereitschaft, die eigene Perspektive zu verändern. Sich als Kollektiv auf ein Projekt mit Blick auf einen Horizont des Noch-nicht-Seienden einzulassen, kann aber durchaus
lohnend sein.

Marzena Chilewski

[18] Vgl. Celikates, Robin (2009): Kritik als soziale Praxis. Gesellschaftliche Selbstverständigung und kritische Theorie. Frankfurt a.M./New York.
[19] Beispielsweise fordert das Viertel nach wie vor gerechte Mieten, statt eine Kritik an der Miete selbst
und den herrschenden Eigentumsverhältnissen zu formulieren.
[20] Vgl. Becker, Karina/Gertenbach, Lars/Laux, Henning/Reitz, Tilman (Hg.) (2010):Grenzverschiebungen des Kapitalismus. Umkämpfte Räume und Orte des Widerstands. Frankfurt a.M.
[21] Wenn heute paradoxerweise einst subversives »nonkonformistisches« Verhalten und »Anderssein« gefordert werden und zu bloßer Mitläuferei und zum Statussymbol verkommen sind, könnte das Wirkungsgmächtigste und Effektivste, was man tun kann, schlichtweg der passive Widerstand, also das »Nichtstun«, sein.
[22] Dies würde deutlich über die übliche Gentrifizierungs-Kritik hinaus gehen. In einer Broschüre der Gruppe »Kritikmaximierung Hamburg« heißt es sehr treffend: »Anstatt diese [Veränderung eines Stadtteils] aber prozesshaft zu
kritisieren, das heißt als einen dem Kapitalverhältnis immanenten beziehungsweise einen sich auf stetig erhöhter Stufenleiter reproduzierenden Prozess, basiert die Kritik auf einer Vorstellung eines quasi nicht- entfremdeten, organischen Zustands, der einmal real und hegemonial in dem jeweiligen Stadtteil gewesen sein soll.« So wird auch der
entsprechende Stadtteil in einen »ursprünglichen Naturzustand projiziert, in dem das gesellschaftliche Leben in diesem harmonisch funktioniert haben soll« (Kritikmaximierung Hamburg: Gentrification. Unveröffentlichtes Arbeitspapier, Hamburg 2010, S. 16).
[23] Behrens, Roger (2010): Schöner Wohnen nach der Stadt. Drei Reflexionen über das richtige Leben im falschen. In: Florida. Beiträge für das Leben nach der Stadt. Nr.1/2010 [http://florida.maknete.org/].“

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