Aus der Jenaer Geschichte… 2001: Besetzung der Ex-PI am Steiger 1

Aus der Jenaer Geschichte der Kämpfe um selbstverwaltete Räume ist uns erst kürzlich bekannt geworden, das damals, das heißt vor mittlerweile 13 Jahren, das Haus am Steiger 1 besetzt worden ist. Das Gebäude war in der DDR ein Gefängnis in welchem unter anderem der Oppositionelle Matthias Domaschk eingesessen hatte, welcher unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen war. Bezeichnenderweise wurde es nach der Wende zunächst als Polizeiinspektion genutzt. Inzwischen ist das Haus ein Studentenwohnheim.
Der Ablauf der Besetzung, der anschließenden Ereignisse und ein Flugblatt von der Aktion sind der Zeitung „the FUTURE is unwritten“ entnommen und hier erneut veröffentlicht:

Endlich wieder: Hausbesetzung in Jena!

Wenn auch mittlerweile längst Geschichte, gab es am 15.09.2001 eine Hausbesetzung in Jena. Die Tatsache, dass dabei eine ehemalige Polizeiinspektion besetzt wurde, hat nicht nur die Polizei in eine schwere, aber nur kurze, Krise stürzen lassen: Das Gebäude erwies sich als fast unräumbar, nur die Hilfe der Feuerwehr hätte einen Polizeieinsatz gelingen lassen. Wir dokumentieren Euch hier den Ablauf der Aktion und das, was danach kam:

Samstag, 15.09.2001:
irgendwann nachts Bezug unseres neuen Zentrums
09:30 Beginn der Mobilisierung.
10:00 Die ersten Leute treffen ein.
12:30 Die drei Transparente werden aufgehängt und Flugis verteilt.
14:00 Zwei Streifenwagen postieren sich.
14:30 Nazis vom THS (mit SHK-Kennzeichen) fahren vorbei, beginnen zu filmen und zu telefonieren. Kurz vorher oder danach beschlagnahmen die Bullen (Herr Schulz) eine Videocassette: Unterstützung und Nichtanzeige einer Straftat, Filmen von Beamten ohne deren Einverständnis. Gleichzeitig verkündet der Einsatzleiter Schulz, daß das Grundgesetz an diesem Tag nicht mehr gelte.
15:45 Der Einsatzleiter wird von einer Wasserflasche versehentlich „getroffen“, als er zu verhindern sucht, daß Außenstehende die BesetzerInnen mit Essen + Trinken versorgen: Die Flasche trifft nur die Hauswand, fällt wieder runter und springt nach Bodenkontakt Schulz ins Gesicht. Großes Geschrei und Wehklagen erhebt sich…. 😉
16:00 Die ersten Bullen verschaffen sich Zutritt zum Hof; mithilfe einer winzigen Eisensäge verbringen sie die nächsten 45 Minuten mit dem Zersägen eines einzigen Bügelschlosses. Der Einsatz eines Bolzenschneiders bleibt erfolglos. Daraufhin werden die Türen endgültig verbarrikadiert.
16:50 Abbruch der handwerklichen Betätigung. Statt dessen zieht eine halbe Hundertschaft Plastikroboter auf, in deren Anhang sich auch zwei Feuerwehrfahrzeuge, darunter ein Leiterwagen, befindet.
17:45 Nach zahlreichen technischen Fehlversuchen kommt die erste Räumungsaufforderung. Diese enthält die vorher ausgehandelte Straffreiheit und die Zusicherung der Stadt Jena, über dieses Gebäude zu verhandeln. Daraufhin entschlossen sich die BesetzerInnen, das Gebäude zu verlassen.
18:00 Alle sind wieder draussen, das Haus steht wieder leer.

Montag, 17.09.2001:
Vereinbarung eines Verhandlungstermins für Freitag 13:00.

Dienstag, 18.09.2001:
Rückgabe der beschlagnahmten Transparente wird weiter verzögert. Der zuständige Einsatzleiter ist immer nicht da.

Freitag, 21.09.2001:
13:00 Die Verhandlungen beginnen… Da wir unseren Standpunkt, kein Geld von der Stadt Jena zu nehmen, klar machen, fallen denen einige Steine vom Herzen: Sie beginnen das Projekt zu mögen, weil wir dafür bezahlen. Deshalb wird auch ein Dezernet zusammen mit uns nach Erfurt fahren, um mit der Landesentwicklungsgesellschaft zu verhandeln. Das Konzept selber ist fertig, in wenigen Tagen wird der Verein „FreundInnen des Hauses PI e.V.“ gegründet sein; damit sind wir auch als juristische Person ansprechbar.

Mittwoch, 26.09.2001:
Der Leiter der Abteilung Staatsschutz gibt nach intensivem Fragen (Wer wars denn nun? Wer hat sich das ausgedacht? usw.) die Videokassette zurück; auch die Transparente finden ihren Weg zurück.
Am Abend Vorstellung des Konzeptes in größerer Runde.

Samstag, 29.09.2001:
Demonstration: „Freiräume schaffen! Selbstverwaltung fördern!“ Enttäuschende 25 TeilnehmerInnen – genauso viele wollten nicht auf andere warten, sonst wären es wenigstens 50 geworden.

Donnerstag, 18.10.2001:
2. Gespräch mit Jugendamt.

Montag, 23.10.2001:
Gespräch mit Vetretern (ja, alle männlich) des Finanzministeriums und der Landesentwicklungsgesellschaft. Dabei wird uns zugesagt, sollten wir ein geeignetes Objekt im Landesbesitz finden, wird ernsthaft darüber verhandelt – der Steiger selber wird „im Interesse der Steuerzahler“ zusammen mit dem ehemaligen Oberlandesgericht verkauft. Also suchen wir…

Es sind mittlerweile noch andere „Dinge am Laufen“; allerdings sollte darüber wegen Staatsschutz und Nazis momentan weniger drüber gesprochen werden. Für News schaut bitte auf die Seite der Gruppe: www.piratten.de.vu [funktioniert nicht mehr]Wir haben heute in Jena ein Haus besetzt.

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Ein Satz, mehrere Fragen: Wir? Haus? Besetzt???
Wir sind einige bis viele Jugendliche und junge Erwachsene, die viele Wünsche, Utopien – aber kein Geld, keine Räume und keine eigene Lobby haben. Z.B. Möchten wir nicht nur zusammen wohnen, sondern auch arbeiten ; dafür möchten wir uns Werkstätten, Ausstellungsräume, ein Café, vielleicht eine Bühne für Kleinkunst und auch eine Bibliothek einrichten. Allein schon ohne Wohnräume bräuchten wir dafür viel Platz. Dieser ist eigentlich reichlich vorhanden in Jena, denn Häuser stehen genügend leer, denen oftmals ein ungewisses Schicksal zugedacht ist: Vor 8 Jahren waren es über 130 größere und kleinere leerstehende Objekte. Von diesen wurde ca. ein Drittel abgerissen. Ein weiteres Drittel steht immer noch oder wieder leer. Dazu sind zahlreiche neue Häuser gekommen. Saniert werden nur die „Schmuckstücke“ in zentraler Lage; Stadt und Land geben diese oftmals an Immobilienfirmen ab, die dann völlig anonym verwalten lassen und nur an Steuerabschreibung interessiert sind. Und für Projekte, die sich selbst verwalten, d.h. alle Entscheidungen basisdemokratisch fällen, aber kein Geld für einen solchen Raum wollen, gibt es nichts.
Wenn Jena dann mal wieder vom schlechten Gewissen geplagt wird oder Rechtsextreme Menschen jagen und verletzen, gibt es als Zeichen von Reue schöne Worte, Bettelaufrufe an die JenaerInnen, doch ja ein klein wenig zu spenden, damit mal ein einziger neuer Jugendklub aufgemacht werden kann.
Was gibt die Stadt Jena? NICHTS!
Erst recht werden Projekte wie das unsere, ignoriert und totgeschwiegen. Was wollen wir denn schon? Ein Haus! Wir glauben, daß Stadt und Land uns das schuldig sind, denn wir jagen keine Menschen, sind keine RassistInnen, sorgen nicht für Schlagzeilen, die „das Bild Jenas im Ausland beschmutzen“ könnten. Aber wir sorgen für eine Bereicherung für das kulturelle, jugendliche und selbstbestimmte Leben hier in dieser ansonsten grauen Stadt. Wir haben uns genommen, was wir brauchen. Leider war eine Besetzung der einzige Weg. Wenn Ihnen nicht gefällt, was wir gestalten möchten, dann suchen Sie sich selbst was.
Oder besuchen Sie uns doch: Haus PI (ehemalige PolizeiInspektion) Am Steiger 1

Flugblatt der Piratten vom 15.09.2001

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