Nachlese der Besetzung

Auf Indymedia Linksunten gibt es einen längeren Bericht zur Besetzung zu lesen. Dieser schlägt einen Bogen von der letzten Besetzung im Jahr 2007 zur Aktion vom 6./7.12.2013, thematisiert den Ablauf der Besetzung, den Kontakt mit Stadt+Bullen und nimmt eine erste Bewertung vor. Zu lesen gibts ihn unter diesem Link oder hier als Volltext:

[Jena] Eine Woche nach der Räumung des „Infocafé Wolja“

Am 6.12.2013 wurde in der Jenaer Innenstadt die Neugasse 17 besetzt. Zwischen 40 und 100 Menschen blockierten bis in die Nacht die Straße, bauten Barrikaden und belebten das neu eröffnete „Infocafé Wolja“ im Erdgschoss. Die Polizei hielt bis zum Samstagmorgen Distanz, stürmte aber nach dem gescheiterten Vermittlungsversuch von Bürgermeister Albrecht Schröter überraschend Straße und Haus, wobei ein Mensch verletzt wurde, mehrere Türen im Erdgeschoss zerstört wurden und vier Menschen für mehrere Stunden in Gewahrsam genommen wurden. Die Besetzer_innen kommunizierten danach, dass die Aktion nur den Anfang eines Kampfes darstellen werde.

Jenaer Zustände

Seit der vorübergehenden Besetzung des leerstehenden Horten-Gebäudes am Inselplatz im Jahr 2007 (http://de.indymedia.org/2007/10/196383.shtml), die eher Partycharakter hatte, hat es in Jena keine Versuche mehr gegeben, sich Häuser zu nehmen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Neben stadtunabhängigen Faktoren dürften speziell in der Studistadt Jena die starke Fluktuation in der links-aktivistischen Szene und das Vorhandensein von verschiedenen (gemieteten / von Vereinen verwalteten) Orten für linke Infoveranstaltungen, Treffen, nicht-massentaugliche Konzerte und/oder Solipartys eine Rolle spielen. Hinzu kommt ein Leerstand von weniger als 1 %, der zusammen mit weiteren Faktoren bei vielen Menschen die bequeme Haltung beförderte: „In Jena gibts kein Potenzial für Besetzungen.“ Das ging soweit, dass in einer Stadtratsdebatte, in der Bewohner_innen und Sympathisant_innen des vom Abriss bedrohten Wohnprojekthauses Inselplatz 9a den Plenarsaal fluteten, ein FDP-Stadtrat flapsig kommentierte: „Na dann besetzt doch ein Haus!“ – vermutlich in der Gewissheit, dass die bürgerlich-demokratisch argumentierenden Insulaner_innen eine solche Aktionsform nicht wählen würden.

Die Neugasse 17 im Zentrum Jenas war derweil der ganzen Stadt bekannt. Seit rund zehn Jahren stehen die Wohnungen in den oberen beiden Stockwerken leer, während der Nähmaschinenladen im Erdgeschoss vor ca. fünf Jahren ausziehen musste. Laut Recherchen wurde das Haus vor fünf Jahren zwangsversteigert, weil der damalige Eigentümer keine Maßnahmen gegen seinen Verfall unternahm. Seitdem das Haus in den Besitz von Jenawohnen überging, wurde jedoch ebensowenig am Haus gemacht.

Die Besetzung

Nachdem das Haus am 6.12.2013 besetzt worden war (https://linksunten.indymedia.org/en/node/100902), sammelten sich drum herum mehr und mehr Menschen. Eine Kundgebung wurde angemeldet, eine mobile Soundanlage sorgte für Unterhaltung, und der Laden im Erdgeschoss, das zukünftige „Infocafé Wolja“, stand allen offen. Die Besetzer_innen hatten erklärt, dass mit der Besetzung ein „Raum für Debatte und Intervention“ geschaffen werde, der Kämpfe um Stadt und für gesellschaftliche Emanzipationsprozesse befördern solle. Die Polizei hielt sich zunächst zurück. Bei Einbruch der Dunkelheit begannen einige Menschen, Barrikaden zu errichten. Um 17.30 Uhr signalisierte der Jenaer Polizeichef René Treunert Kundgebungsteilnehmer_innen, dass er Gespräche mit dem Hauseigentümer vermitteln wolle. Nachdem sich daraufhin die Besetzer_innen per Handy bei Treunert meldeten, forderte er diese auf, aus dem Haus herauszutreten, um mit ihm und einem Vertreter von Jenawohnen zu verhandeln. Die Besetzer_innen waren gesprächsbereit, verweigerten allerdings ein Verlassen des Hauses. In einem zweiten Telefonat eine Viertelstunde später erklärte Treunert, dass Jenawohnen zu keinerlei Verhandlungen bereit sei, da es sich um eine llegale Besetzung handele.

Hier kann gemutmaßt werden, dass Treunert zu keinem Zeitpunkt jemanden von Jenawohnen zur Hand hatte, sondern bloß einen Versuch unternahm, die Besetzer_innen zum Verlassen des Hauses zu bewegen oder zumindest einen Einblick zu erhalten, welche Zu- und Ausgänge das Haus hat und wieviele Menschen sich in ihm aufhalten.

Die Besetzer_innen ließen die Menschen rund ums Haus wissen, dass sie es ernst meinen und jede Unterstützung und jeder Schutz willkommen seien. Auf der Straße wurde von solidarischen Menschen Suppe und Tee serviert, zu späterem Zeitpunkt wurden Decken und Spiele vorbeigebracht, womit es sich im Infocafé gemütlich gemacht wurde. Und auch mitten in der Nacht, als immer noch 40-50 Menschen feierten, Barrikaden verstärkten und die Rückseite des Hauses blockierten, gab es noch blecheweise Kuchenspenden. Die Polizei blieb an beiden Eingängen der Neugasse postiert und machte gelegentlich Ansagen, dass das Haus einsturzgefährdet sei und deshalb das Betreten unterbleiben solle.

Am Samstagmorgen waren noch ein knappes Dutzend Menschen im Infocafé und auf der Straße. Die Barrikaden wurden stückweise abgebaut, Brötchen gefrühstückt und über Perspektiven gesprochen. Zeitweise war gerade mal ein Streifenwagen zu sehen. Um 10.30 Uhr kam dann Oberbürgermeister Schröter in Begleitung von Polizeichef Trenuert (in Zivilkleidung) und dem Geschäftsführer von Jenawohnen, Stefan Wosche-Graf. Nachdem sie das durch Tags, Graffitos und Sticker verschönerte Infocafé begutachtet hatten, bekundeten sie das Interesse an einem Gespräch mit den Besetzer_innen. Diese kamen dann zum Fenster im 1. Stock und forderten OB Schröter auf, die Polizeikräfte abzuziehen und jede weitere Bedrohung der Besetzung zu unterlassen. In einer sich entwickelnden Diskussion versuchte Schröter in seinem Pfarrertonfall die Besetzer_innen unter Zusicherung von Straffreiheit und der Perspektive von Gesprächen über ein legales Alternativobjekt zur Aufgabe zu bewegen. Als das konsequent abgelehnt wurde, holte er weiter aus und bezeichnete die Weltsicht der Besetzer_innen als stalinistisch (http://wolja.noblogs.org/post/2013/12/15/darstellung-der-verhandlungen/). Ob dieser lächerlichen Szenerie zogen sich die Besetzer_innen zurück, während Schröter und Treunert noch mit Sympathisant_innen der Besetzung diskutierten. Nach deren Verschwinden wurden Absprachen zu einer weiteren Organisierung der Besetzung getroffen und für einen nachmittäglichen Workshop im Infocafé mobilisiert.

Die Räumung

Nach verschiedenen Meldungen, dass das BFE sich in unmittelbarer Nähe bereit machen würde, zeichnete sich bald nach dem Auftritt des OBs eine Polizeiaktion ab. Allerdings war in der Neugasse, in der seit Freitagnachmittag durchgehend Kundgebungen angemeldet waren, davon noch nichts zu sehen. Gegen 11 Uhr sah mensch plötzlich einen Trupp von 40-50 behelmten BFElern von der Stadtseite aus auf die Kundgebung zustürmen. Ein Mensch, der noch auf der Straße stand, wurde einfach umgerannt und dabei am Kopf verletzt. Trotzdem knieten sich erstmal mehrere Bullen auf seinen Rücken und brachten ihn in eine Einfahrt, wo er dann auf den Abtransport durch den Krankenwagen wartete – nicht ohne eine Anzeige wegen „Widerstand“ zu kassiern. Ein weiterer Mensch wurde unter demselben Vorwurf in Gewahrsam genommen. Menschen, die das Haus blockierten, wurden weggeschubst und gestoßen, Transparente wurden zerrissen. Unmittelbar danach rückte ein Trupp mit Rammbock und Schutzschildern ins Infocafé ein und durchbrach die Tür vom Café ins Haus. Im Haus durchbrachen sie eine weitere Tür, durchkämmten alle Stockwerke und nahmen drei Personen fest. Alle drei wurden, eben wie die draußen festgenommene Person, zunächst zur Gefangenensammelstelle in die Kahlaische Straße gebracht, dort eine halbe Stunde ohne Jacken und in Handschellen im Schneeregen stehengelassen und dann zur Vernehmung und ED-Behandlung auf die Polizeiinspektion am Anger gebracht. Dort warteten bereits solidarische Anwält_innen auf die Festgenommenen und begleiteten die erfolglosen Verhörversuche und ED-Behandlung. Die drei im Haus Festgenommenen kamen um 15 Uhr mit Anzeigen wegen Hausfriedensbruchs frei. Die vierte festgenommene Person (Widerstand) kam schon etwas früher frei und die fünfte Person (Widerstand) befand sich im Krankenhaus. An der Polizeiinspektion empfing eine Gruppe von ca. 15 Menschen die Freigelassenen mit Keksen und Schokolade.

Zeitgleich fuhr ein Löschzug der Feuerwehr, zwei Autos des städtischen Gebäudeservice ASI und ein Wagen des Kommunalservice KSJ in der Neugasse auf. ASI hatte Holzplatten besorgt, die von Feuerwehrleuten vor das komplette Erdgeschoss geschraubt wurden. KSJ entfernte derweile Schlafsäcke, Isomatten und weitere Gegenstände aus dem Café und von der Straße.

Spontidemo

Um 18 Uhr startete am Unicampus eine unangemeldete Spontandemo mit ca. 80 Menschen (http://wolja.noblogs.org/post/2013/12/08/sponti-nach-der-raeumung/). Die Demo zog in zügigem Tempo und begleitet von Feuerwerk durch die Jenaer Innenstadt, am Rathaus vorbei zum Holzmarkt. Während der Demo wurden Flyer verteilt, in denen sich mit der Besetzung solidarisiert, das Vorgehen von Stadt und Polizei kritisiert und ein entschlosseneres Handeln gegen die kapitalistische Zurichtung von Stadt und Menschen angekündigt wird (http://wolja.noblogs.org/post/2013/12/12/flyer-nach-spontidemo-aufgetaucht/). Da die Neugasse von mehreren Wannen zugestellt war und sich Bullen näherten, löste sich die Demo am Holzmarkt auf und die Menschen zerstreuten sich.

Erste Bewertung

Die Tatsache, dass mittels nicht-öffentlicher Mobilisierung fünfzig Menschen an einem Freitagnachmittag zur Besetzungsaktion starteten und vor Eintreffen von Bullen beide Seiten des Hauses blockieren konnten, ist angesichts der Lage in Jenas Zentrum und in Sichtweite des Paradiesbahnhofs ein voller Erfolg. Auch dass das Haus mithilfe von Barrikaden und durchgängiger Präsenz von Menschen auf beiden Seiten (im einsetzenden Schnee) bis Samstagvormittag von Bullen unbehelligt blieb, war nicht unbedingt so zu erwarten. Den Menschen im Haus hat es zu keinem Zeitpunkt an irgendwas gemangelt. Es gab zudem durchgängig einen EA-Kontakt und ab dem Zeitpunkt der Räumung waren mehrere Anwält_innen vor Ort.

Draußen hat es derweil zeitweise an Kommunikation und/oder politisch versierten Bezugsgruppen gefehlt, was dazu führte, dass pöbelnde Macker oder erlebnisorientierte Barrikadenbauer_innen, die vor selbigen dann für Handyfotos posierten, für manche Momente die Szenerie bestimmten und Kritiker_innen beschimpften oder vergraulten. Insgesamt kann auch bilanziert werden, dass weniger Menschen dauerhaft vor Ort waren, als potenziell möglich wäre. Die parallel stattfinden Veranstaltungen wie die Ultras-Demo oder die Konzerte von Feine Sahne Fischfilet und Egotronic haben vielleicht für eine weitere Bekanntmachung der Besetzung geführt. Sie hatten jedoch nicht unbedingt den Effekt, dass die Blockaden massiv Zulauf gehabt hätten oder genügend besonnene Menschen mobilisiert wurden, die in Schichtsystemen eine konstante Zahl an Menschen bis zum nächsten Tag organisiert hätten. Das Bild, das sich für Polizeichef Treunert bei OB Schröters Besuch um 10.30 morgens ergab, dürfte ausschlaggebend für die kurz darauf erfolgte, brutale Räumung gewesen sein; es waren nur noch ca. 15 Menschen da, von denen einige offensichtlich die Nacht durchgemacht hatten.

Politisch wird sich zeigen, welchen Effekt die Besetzung und die in ihrem Rahmen kommunizierten Positionen haben werden. Ein wichtiges Zeichen, das gesetzt wurde, ist die Ablehnung irgendwelcher Kompromisse bezüglich Straffreiheit oder Gespräche über „legale“ Alternativen. Diese Besetzung wurde nicht unternommen, um danach mit dem narzisstischen Oberbürgermeister („Wir machen doch so viel gegen Nazis“) in Hinterzimmern rumsitzen zu müssen und sich erklären zu lassen, dass Besetzungen illegal seien und die Stadt ohnehin kein Gebäude hergeben werde. Selbiges taten die Menschen in Ilmenau, die sich zudem noch von linksradikalen Unterstützer_innen wie den Antifaschistischen Gruppen Südthüringen (AGST) distanzierten (http://www.afaction.info/index.php?menu=news&aid=611). Und ob es in Erfurt nach der Besetzung vom 1. Mai in irgendeine Richtung vorangeht, ist bisher auch unbekannt. Dort wurde ebenfalls auf das Angebot von „Straffreiheit“ und Gesprächen eingegangen. Mit der Aktion in Jena ging es tatsächlich um das konkrete Objekt und um eine direkte Aktion, mit der unmittelbar bestimmte Wünsche und Ideen verwirklicht werden sollten – ab dem ersten Moment an und mit der Möglichkeit für alle vor Ort, sich auf ihre Art einzubringen. Das heißt nicht, dass es nicht andere Herangehensweisen geben sollte, vor allem wenn Menschen bereits militarisierte Räumungen wie jene des Erfurter Topfsquats erlebt haben.

Für viele Menschen in Jena war dies das erste Erlebnis mit einer Besetzung. Wichtig ist dabei vor allem, dass nun offen und anhand konkreter Erfahrungen Besetzungen diskutiert werden können. Wie von den Besetzer_innen bereits kommuniziert wurde: „Wolja lebt!“ (http://wolja.noblogs.org/post/2013/12/07/hausbesetzung-der-neugasse-17-b…). Auch die Ultras ließen die Stadt am Folgetag der Räumung wissen, dass dies keineswegs das Ende war, sondern erst der Anfang (http://wolja.noblogs.org/post/2013/12/12/soliaktion-in-der-suedkurve/).

Während sich Jenawohnen den Kopf zerbricht, wie sie die Neugasse 17 vor weiteren Besetzungen schützen können und die Bullen permanent Patrouille fahren, wird vielerorts angeregt gestritten und der mögliche nächste Schritt abgewogen. Wer sagt denn, dass nur leerstehende Häuser besetzt werden können? Langfristig wird sich hier niemand nur mit den Resten des Markts zufrieden geben, sondern alles wollen. Und wer sagt, dass Wolja nicht seit der Aktion in der Neugasse bereits eine Bewegung von verschiedenen Menschen und Bezugsgruppen wird? Mal vernetzt, mal vereinzelt. Aber immer in tiefer Feindschaft gegenüber Staat und Kapital.

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